Campusgeschichten

Florian Greller ist 41 Jahre alt, Student und wagt einen beruflichen Neustart

Angehende Hebamme: Es ist ein Junge!

Ein Mann im Kreißsaal ist eigentlich nichts Ungewöhnliches. Irgendwer würde fehlen, wenn kein Arzt bei der Geburt im Krankenhaus dabei wäre. Und dann sind da die Väter, die meist nur hilflos und verloren neben ihren Frauen sitzen, ihnen Mut zureden und Händchen halten, während ihnen selbst der Angstschweiß vom Gesicht tropft. Doch wenn Florian Greller den Kreißsaal betritt, sorgt das für Überraschungen. Er ist angehende Hebamme und damit eine Seltenheit in Deutschland.

Florian Greller ist 41 Jahre alt, Student und angehende Hebamme. Für seinen Traumjob hat er den beruflichen Neustart gewagt. Foto: Hermann Pentermann
Florian Greller ist 41 Jahre alt, Student und angehende Hebamme. Für seinen Traumjob hat er den beruflichen Neustart gewagt. Foto: Hermann Pentermann

Schon am Nachmittag wird es langsam dunkel am Caprivi-Campus. Es geht auf Weihnachten zu, alle Welt wartet darauf, dass das Baby bald in der Krippe liegt, und coronabedingt ist es ruhig im sonst belebten Gebäude der Hochschule Osnabrück, das alle „den Frosch“ nennen. Einige Studierende sitzen in Gruppen zusammen, flüstern sich zu, tippen auf ihre Laptops. Am Campus auf dem Westerberg studiert auch Florian. Man sieht es ihm, kompakte Größe, rechteckige Brille, blaue Schiebermütze, nicht an, dass er ein besonderer Student ist: Er ist der erste Mann in Osnabrück, der Hebammenwissenschaft studiert.

Männliche Hebammen sind noch Exoten

Wie viele männliche Hebammen es in Deutschland gibt, weiß niemand genau. In der Bundesrepublik fehlt ein Berufsregister, dass alle festangestellten und freiberuflichen Hebammen zählt. Claudia Hellmers, Professorin für Hebammenwissenschaft an der Hochschule, spricht von acht männlichen Hebammen, das habe eine ehemalige Studentin in ihrer Bachelorarbeit herausgefunden. Andernorts ist von zehn oder gar 35 männlichen Hebammen die Rede. Die optimistische Schätzung gibt der Deutsche Hebammenverband auf Anfrage ab: 52 Männer arbeiteten festangestellt als Hebamme in den Kliniken des Landes. Aber Fakt ist: Unter den 26.000 Hebammen muss man die Männer mit der Lupe suchen. Je nach Rechenart liegt die Männerquote im Hebammenwesen bei 0,03 bis 0,2 Prozent.

Vorurteile gegenüber Männern in einer Frauenbranche. Angst davor, dass Mütter die männliche Hebamme entsetzt aus dem Kreißsaal schicken. Es gibt verschiedene Gründe, die Männer vom Traumjob Hebamme abhalten. Auch Florian schlug zunächst einen anderen Weg ein: In seiner Heimatstadt München absolvierte er eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann, insgesamt 15 Jahre arbeitete er in dem Job. Dann kam die Sinnkrise: „Irgendwann saß ich den ganzen Tag allein am Rechner und wusste, dass es das Falsche für mich ist“, sagt er.

Für den heute 41-jährigen Studenten bricht mit dem Studium ein neues, aber kein unbekanntes Leben an: In Berlin studierte Florian Wirtschaftsrecht neben dem Job als Versicherungsmakler. Später zog er der Liebe wegen nach Osnabrück. Dort erfuhr er vor zwei Jahren vom Hebammenstudium, das alte Träume weckte: „Der Wunsch, Hebamme zu werden, hat schon lange in mir geschlummert“, sagt er. Eigene Kinder hat Florian, der seit zehn Jahren mit einem Mann verpartnert ist, nicht. Doch Schwangerschaft, Geburt und Erziehung interessieren den fünffachen Patenonkel. In seiner Freizeit liest er Bücher darüber, tauscht sich mit befreundeten Müttern aus. Aber Hebamme werden? Als Mann? Darf man das?

Akzeptierte Kollegen

Ja, darf Mann, allerdings erst seit 1985. Auch Professorin Hellmers lernte in ihren 13 Jahren als praktizierende Hebamme keinen einzigen Kollegen kennen. Dennoch ist sie zuversichtlich: „Hebamme ist seit Jahrhunderten ein klassischer Frauenberuf. Wie in der Pflege wird es einige Zeit dauern, bis sich Männer etabliert haben. Ich bin aber sicher, dass der Überraschungseffekt abnehmen wird“, sagt sie. Auch Vorbehalte dürften mit der Zeit verschwinden. „Eine Studentin hat in einer Bachelorarbeit männliche Hebammen befragt. Sie sagten, dass sie sich heute schon akzeptiert fühlen“, sagt Hellmers, trotzdem komme es ab und zu vor, dass sie von werdenden Eltern abgelehnt werden.

Reaktionen, die auch Florian kennt. Vor Studienbeginn absolviert er im Marienhospital ein Praktikum. Einerseits ein Muss, um fürs Studium zugelassen zu werden, andererseits ein Lackmustest: „Ich wollte herausfinden, wie ich wirke“, sagt Florian. Für die vier Wochen, die alles entscheiden, kündigte er extra seinen Job, eine „Alles-oder-Nichts-Situation“. Das Praktikum begeistert ihn und räumt die letzten Zweifel ab: „Ich wurde mit offenen Armen empfangen, von den Ärzten und Hebammen. Ich hatte nie das Gefühl, ich gehöre da nicht hin“, sagt Florian. Zwei, drei Frauen habe es gegeben, die ihn im Kreißsaal nicht dabeihaben wollten. „Das hing in der Luft. Ohne großartig darüber zu reden, habe ich das gemerkt, gleich beim Reinkommen“, sagt er. Die Ablehnung nehme er nicht persönlich, er respektiere jede Entscheidung der Frau. „Nein heißt nein, ganz einfach.“

Zum ersten Mal eine Geburt sehen

In seinem Vorpraktikum sieht Florian zum ersten Mal die Geburt eines Kindes: „Das war eine Mustergeburt, die kaum besser hätte laufen können.“ Neben glückseligen Augenblicken wie diesen erlebt er auch „schattige Momente“: Einmal sei ein Kind mit der Schulter im Geburtskanal stecken geblieben, ein anderes Baby hatte sich so verdreht, dass es sein Füßchen an die Schläfe klappte, eine Frau erlitt einen Dammriss. Hautnah erfährt er, was es heißt, wenn die Freude einer Geburt in kürzester Zeit ins Gegenteil umschlägt. Trotzdem: Die Begeisterung, dabei zu sein, wenn Leben entsteht, überwiegt. „Ich war auch bei einem Kaiserschnitt dabei. Andere fallen da in Ohnmacht, ich fand das aber sehr interessant“, sagt Florian.

Nach dem Praktikum steht Florians Entscheidung endgültig fest: Er tauscht den 40-Stunden-Job am Computer ein gegen das duale Studium an der Hochschule mit Schichtarbeit im Marienhospital. Statt um Zahlen, Daten, Fakten dreht sich jetzt alles um Gefühl, Respekt, Empathie. Aus dem Versicherungskaufmann wird ein dualer Student der Hebammenwissenschaft, der zwischen dem Hörsaal am Caprivi-Campus und der Geburtsstation in Marienhospital hin- und herpendelt. So sieht er also aus, der Traum vom Hebammenstudium.

Viel Unterstützung und Verständnis

Und diesen Traum lebt Florian zusammen mit den 23 Kommilitoninnen seines Jahrgangs. Eine von ihnen ist Luisa Lüllmann: „Ich war überrascht, als ich Florian am ersten Tag getroffen habe, muss ich zugebe“, sagt sie. Niemand habe aber skeptisch auf den einzigen Mann im Hörsaal reagiert. Im Gegenteil, Florian widerlege Klischees, die noch immer in der Gesellschaft herrschten: „Er beweist, dass Männer gute und einfühlsame Hebammen sein können. Viel wichtiger als das Geschlecht ist doch, dass die Frauen sich geborgen fühlen.“ Das kann auch Claudia Hellmers bestätigen: „In dem intimen Moment der Geburt, in dem Hebammen Frauen nahekommen, sind Empathie und Respekt wichtiger als Geschlecht.“ Für ihren Debütanten findet Hellmers lobende Worte: „Florian ist sehr motiviert genauso wie alle anderen Studentinnen auch.“

Auch Florian fühlt sich wohl in seinem Studium. „Meine Kommilitoninnen haben mich toll aufgenommen und unterstützen mich“, sagt er. Denn, das muss man zugeben, es gibt auch Momente, in denen man merkt, dass ein Mann Hebamme wird. „Im Anatomie-Kurs haben wir über intime Dinge gesprochen, die für Frauen selbstverständlich sind“, sagt Luisa. Da liegt es in der Natur der Sache, dass Florian nachhakt und wissen will, wie manches funktioniert oder sich anfühlt. „Wir lernen aber auch von Florian“, fügt Luisa hinzu. „Von seiner Lebenserfahrung und von seiner Sichtweise als Mann.“

Angekommen im Traum zu sein und Unterstützung von allen Seiten zu erfahren, muss ein Gefühl sein, das stärkt und stolz macht. Diese Erkenntnis erlangt jeder, der mit Florian spricht. Sein Ziel ist es nicht, der Überflieger im Studium zu sein, sondern einfach eine gute Hebamme zu werden: „Ich will Frauen und Familien unterstützen und gesunde Babys zur Welt bringen“, sagt er. „Und Vorbild sein für andere Männer, sie für den Beruf als Hebamme begeistern.“ Wenn alles klappt, sagt Florian, hat er mit 45 den Bachelor in der Tasche, dann liegen noch zwanzig Arbeitsjahre vor ihm. Eine lange Zeit, in der sich vielleicht mehr Männer als Hebamme etablieren. Und es niemanden mehr wundern wird, wenn die Hebamme kommt und ein Mann den Raum betritt. Das klingt vielleicht nach einem schönen Traum. Aber schöne Träume, das zeigt Florian, können bekanntermaßen in Erfüllung gehen.

 

Artikel: Sebastian Fobbe, mit freundlicher Genehmigung der Neuen Osnabrücker Zeitung.

Hebamme werden – das neue Studium in Osnabrück

Laut Bundesagentur für Arbeit gibt es in Deutschland 33 Standorte fürs Hebammenstudium. Ursprünglich ist Hebamme ein Ausbildungsberuf, im Januar 2020 sind jedoch neue Berufsgesetze in Kraft getreten, die die Hebammenausbildung vollständig akademisiert. Bis Ende 2022 ist die schulische Ausbildung noch möglich, danach werden nur noch studierte Hebammen auf den Arbeitsmarkt strömen. Mit der Akademisierung setzt Deutschland eine EU-Richtlinie um. Die Bundesrepublik ist damit der letzte Mitgliedstaat, der das Hebammenstudium verpflichtend einführt.

Seit 2008 bietet die Hochschule Osnabrück das Studium für künftige Hebammen an. In Fach „Midwifery“ konnten sie neben oder nach ihrer Ausbildung einen Bachelor of Science erwerben. Im Wintersemester 2021/22 startete das erste vollakademisierte Studium in Hebammenwissenschaft an der HS. Der siebensemestrige Bachelor ist dual aufgebaut, die Studierenden besuchen also nicht nur Vorlesungen und Seminare, sondern absolvieren auch 2200 Praxisstunden in ihrer Ausbildungsstätte.